Alexander
Es ist
schon lange her. Aber ich kann mich noch gut daran erinnern, wann und wo ich
den Obdachlosen das erste Mal gesehen habe. Es war der Frühling vor sieben
Jahren. Ich kann mich noch so gut erinnern, weil er nach allem aussah, aber
nicht nach einem Obdachlosen. Hochwertiger Anzug, vielleicht nicht mehr ganz
neu, aber sehr gut gepflegt. Saubere Schuhe, sogar Krawatte. Sorgfältig rasiert
war er auch. Er hatte zwei große Koffer neben sich stehen. Die sahen mehr nach
teuren Reisen in ferne Länder aus als nach Obdachlosigkeit. Aber er stand nun
mal ganz am Rand der großen Fußgängerzone, in der ich meistens in meiner
Mittagspause spazierengehe. Er stand zwischen zwei Geschäften und verkaufte die
lokale Obdachlosenzeitung. Das eine Geschäft war ein Laden, der sich auf
Bürsten spezialisiert hat. Ich liebe solche Fachgeschäfte, die ein schmales,
dafür aber sehr tiefes Angebot haben. Allerdings habe ich da nur sehr selten
was gekauft. So viele Bürsten braucht man nicht. Das andere Geschäft war einer
dieser Ein-Euro-Läden. In die gehe ich ab und zu mal rein, aber mehr zur
Belustigung, denn eigentlich mag ich sie nicht so besonders. Da kaufe ich quasi
nie was. In diesem bestimmten Laden war ich allerdings eine Zeitlang häufiger, wenn
auch nur, um mit einer der Verkäuferinnen zu flirten. Ich habe es zumindest
versucht. Obwohl sie wohl nicht uninteressiert war, ist dann doch nichts aus
uns geworden.
Bettlern
gebe ich nie was. Ich bin der Meinung, dass man für sein Geld auch was tun
sollte. Unterstützung ja, wenn das Geld nicht reicht, ausschließlich Betteln
nein. Aber die Verkäufer von Obdachlosenzeitungen betteln nicht, sondern
arbeiten für ihr Geld. Und sie belästigen einen nicht mit musikalischen Aktivitäten.
Denen kann man in den Innenstädten heute kaum noch entkommen. Da gebe ich auch
nichts, würde zur Strafe am liebsten noch Geld aus dem Hut klauen. Schmerzensgeld,
wenn Sie so wollen. Aber von der Obdachlosenzeitung kaufe ich in großzügigen
Zeiten auch mal zwei oder drei Exemplare der gleichen Ausgabe. Natürlich
jeweils von anderen Verkäufern. Die überzähligen Exemplare verschenke ich dann oder
gebe sie zuhause ungelesen ins Altpapier. Niemals würde ich den Verkäufern das
Geld für die Zeitung geben, ohne die Zeitung mitzunehmen. Das ist entwürdigend
und gehört sich nicht.
Ich kaufte
also irgendwann meine erste Zeitung bei ihm. Außer dem höflichen hallo danke
bitte und dem heutzutage wohl unvermeidlichen schöntachnoch dankeihnauch
wechselten wir an diesem Tag keine Wörter. Warum auch? Das änderte sich im
Laufe der Zeit, wenn auch nur langsam und in begrenztem Rahmen. Ich kam fast
jeden Tag an den beiden Läden vorbei und wurde so etwas wie ein Stammkunde. Ich
traf ihn nur an diesem Platz, nie anderswo. Auch er erkannte mich irgendwann wieder.
Es kam sogar vor, dass ich eine Ausgabe kaufen wollte, die ich schon hatte, und
er mich darauf aufmerksam machte. Ich dankte ihm und verabschiedete mich. Das
war es dann an Kommunikation.
Irgendwann war
ich dann allerdings doch neugierig. Ich weiß auch nicht mehr, warum, aber ich
fragte ihn nach seinem Namen. Der sei Alexander, informierte er mich, seinen
Nachnamen habe ich nie erfahren. Ich habe auch nicht insistiert. So aufdringlich
bin ich dann doch nicht. Er hat mich auch nicht nach meinem Namen gefragt. Dass
ich Harald heiße, habe ich ihm unaufgefordert mitgeteilt, ebenfalls ohne
Nachname.
Obwohl ich
nicht zu übertriebener und voreiliger Vertraulichkeit neige, wurde ich peu à
peu inquisitorischer. Er hat mich wohl fasziniert, weil er so gar nicht dem
Klischee des Obdachlosen entsprach. Ich entriss ihm die eine oder andere
Information über sein Leben und wie er in seine Situation als Verkäufer der
Obdachlosenzeitung am Rand einer Fußgängerzone geraten war. Er war zögerlich,
erzählte dann aber scheibchenweise seine Geschichte. Es war die Story von einem
guten Leben, das plötzlich aus den Fugen geriet und immer schneller erodierte. Eigene
Firma, aufgebaut mit Schulden, zuerst nicht ohne Erfolg; keine Reichtümer, die
er hätte anhäufen und verstecken können, aber ordentlicher Verdienst. Dann
jedoch Wirtschaftskrise, einige unkluge Entscheidungen, Kunden mit fragwürdiger
Zahlungsmoral, Konkurs, Verlust des Hauses, Scheitern der Ehe, Rückzug der
meisten Freunde, vielleicht auch aus Stolz Rückzug von den Freunden, wer weiß
das schon, wachsende Verbitterung, nicht ganz unverschuldeter Ärger mit den
Ämtern, Obdachlosigkeit. Mit etwas Pech kann eine solche Abwärtsspirale wohl fast
jeden treffen. Alkohol hat bei ihm keine Rolle gespielt; er hat jedenfalls nie
davon gesprochen. Ich habe ihn auch immer nur nüchtern erlebt.
Aus seiner
Zeit als gutverdienender Unternehmer hatte er nur sein Outfit, diverse Bücher
und die Koffer in die Obdachlosigkeit gerettet. Die restliche Habe war verkauft
oder sonstwie verloren; auf der Straße hat man keinen Platz für große
Besitztümer. Das gute Outfit blieb wenig überraschend nicht lange gut. Ein
Leben auf der Straße und in Obdachlosenunterkünften ist kaum dafür geeignet,
die Kleidung zu schonen. Immer hartnäckiger hielten sich die Verschmutzungen,
die er anfangs noch irgendwie im Griff hatte; auch war seine Kleidung immer mehr
beschädigt. Anfangs konnte man noch Bemühungen sehen, die Risse zu flicken,
danach dann nicht mehr. Irgendwann hatte er seine Anzughose durch eine Jeans
ersetzt. Für den Zweck sicherlich praktischer als die Anzughose. Die Krawatte
aber blieb, das war der Selbstachtung geschuldet. Von den zwei Koffern war
irgendwann nur einer übrig. Vermutlich wurde ihm der andere gestohlen. Es gibt sicherlich
nur wenig Solidarität unter Obdachlosen.
Eines Tages
stand er nicht mehr an der gewohnten Stelle. Vermutlich stand er auch schon vor
diesem Tag nicht mehr da, und es war mir einfach nicht aufgefallen. Es ist
nicht so, dass sich der Obdachlose zu einer Obsession entwickelt hatte. Zuerst
habe ich mir nichts dabei gedacht. Jeder ist mal nicht an seinem Platz, auch
ein Obdachloser. Vielleicht war er sogar verreist, irgendwelche Verwandten oder
Freunde, von denen ich keine Ahnung hatte. Natürlich wusste ich trotz aller
Infos kaum etwas über ihn. Als ich mir dann nach einiger Zeit doch Gedanken
über seinen Verbleib gemacht hatte, betrat ich das Bürstengeschäft. Es war mir
nicht entgangen, dass der Besitzer des Geschäfts dem Obdachlosen immer mal
wieder eine Tasse Kaffee rausgereicht hatte. Vielleicht konnte der was sagen.
Der
Bürstenladenbesitzer konnte was sagen. Alexander war tot. Er hatte das von
einem Stammkunden gehört; woher der das wusste, vermochte er mir nicht zu
sagen. Es war wohl ein Herzinfarkt, aber auch diese Information war nicht
sicher. Spielt ja auch alles keine Rolle. Wir waren nicht befreundet, das
anzunehmen wäre anmaßend nach den insgesamt recht oberflächlichen Begegnungen.
Aber ich war dennoch traurig. Jedes Mal, wenn ich am Standort des Obdachlosen,
der früher ein Unternehmer war, vorbeikam, musste ich an ihn denken. Das wurde
mir bald zuviel und ich änderte meine Mittagspausen-Route. Die Fußgängerzone
ist groß. Da geht das. Seitdem sind bereits viele Monate vergangen. Vergessen werde
ich ihn nicht. Irgendwie fehlt er mir.
Harald
Es ist zwar
schon lange her, aber ich kann mich noch gut daran erinnern, wann und wo ich
den Flaneur das erste Mal gesehen habe. Wo ist eh keine Frage, weil ich fast
immer am gleichen Ort stehe und die Obdachlosenzeitung verkaufe, und zwar
zwischen einem Bürstengeschäft und einem Ein-Euro-Laden. Reiner Zufall, dass
ich da gelandet bin, aber der Platz war nicht schlecht für meinen Umsatz. Liegt
vielleicht auch an der Nähe zum Bahnhof. Beim wann bin ich mir nicht ganz so
sicher. Vor sieben Jahren, irgendwann im Frühling oder Sommer. Er fiel mir auf,
weil er mich von Beginn an sehr neugierig beäugte. Nicht skeptisch oder
herablassend, es wirkte wirklich neugierig, als würde ich ihm jede Menge Futter
für seine Phantasie liefern.
Er gehörte
dann zu meinen ersten Stammkunden. Manchmal hatte ich den Eindruck, er wollte
noch etwas sagen, aber er nahm dann doch nur seine Zeitung und wir tauschten
lediglich die üblichen Höflichkeitsfloskeln aus. Obwohl, so üblich sind die nun
auch wieder nicht. Nicht jeder Kunde redet mit mir, manche wollen vermutlich
nur Karmapunkte sammeln mit ihrem Kauf, eine Form von Ablasshandel, die nehmen
ihre Zeitung, manchmal mit einem komischen Gesichtsausdruck, und sind sofort
weg. Wie eine Flucht. Der Flaneur aber nickte mir häufig zu, wenn er an mir
vorbeilief. Eines Tages überwand er seine Zurückhaltung. Jedenfalls sagte er
mir, dass er Harald heißt und wollte auch meinen Namen wissen. Ich habe ihm
gesagt, dass ich Alexander heiße, mehr aber auch nicht. Der Name stimmt sogar.
Kurz hatte ich überlegt, mir ein Alias zuzulegen, aber was soll’s.
Offensichtlich
war ihm das noch nicht genug an Kontakt oder an Auskünften über mich. Er wollte
fast bei jedem Kauf irgendwas über mich wissen; wie ich in die Lage gekommen
bin, warum ich nicht wie ein Penner aussehe, nein, das Wort Penner hat er nicht
verwendet, und so weiter, und so fort. Ich habe nie mehr als eine Sache
erzählt, er sollte ja schließlich wiederkommen. Also zu jeder gekauften Zeitung
als kostenlose Zugabe ein oder zwei Dinge über mein Leben. Hätte es vermutlich
nicht gebraucht, aber als Unternehmer denkt man nun mal so. Okay, als
Ex-Unternehmer.
Wenn ich so
drüber nachdenke, hat er mir nie was über sich erzählt, und ich habe ihn auch
nie nach seinem Leben befragt. Es hat mich auch nie wirklich interessiert, aber
jetzt, wo ich weiß, dass er nicht mehr lebt, tut es mir fast ein bisschen leid.
Und es tut mir auch leid, dass ich mich damals nicht von ihm verabschiedet
hatte, als ich zum Alkoholentzug viele Wochen nicht an meinem Platz war. Den
Entzug hatte mir eine Dame vom Sozialamt besorgt, oder welches Amt das auch
immer war. Aber da ich meine Alkoholprobleme immer verschwiegen hatte und mir
keine gute Begründung für eine längere Abwesenheit eingefallen wäre, war ich
dann halt einfach weg.
Nach meiner
Rückkehr war es mir anfangs nicht aufgefallen, dass Harald nicht mehr
vorbeikam, denn man kann nicht immer an jedes Gesicht denken. Okay, hier war es
durch unsere kurzen Gespräche etwas anderes, mit den wenigsten habe ich so viel
geredet, aber trotzdem. Als ich es bemerkt hatte, habe ich ihn auch nicht
wirklich vermisst, denn ich kann auch gut ohne Geplauder sein. Als er dann aber
gar nicht mehr auftauchte, habe ich mir doch so meine Gedanken gemacht. Da ich
mitbekommen hatte, dass er eine Schwäche für den Bürstenladen hatte, wollte ich
zuerst da nach ihm fragen. Allerdings hatte mich der Besitzer etwas entgeistert
angeschaut, als ich wieder meinen Platz eingenommen hatte, so dass ich es
gelassen habe. Weil ich aber wusste, dass er öfters in dem Ein-Euro-Laden war,
um eine der Verkäuferinnen anzubaggern, habe ich mich in den Laden getraut, um
zu fragen. Vielleicht wusste die ja was.
Sie wusste
in der Tat was. Harald war tot. So hatte sie es jedenfalls gehört, denn sie
hatte auch keinen echten Kontakt zu ihm gehabt. Das Anbaggern war einseitig, das
erzählte sie mir bei dieser Gelegenheit, auch wenn sie es durchaus ein wenig schmeichelhaft
fand. Da Harald fast jeden Tag in der Ecke flanierte, kannte er wohl den einen
oder anderen Ladenbesitzer, oder Kunden, oder wen auch immer. Von einem dieser
Personen hatte die Verkäuferin es dann gehört, ohne Details zu erfahren. Wie
das halt so ist. Seitdem ist schon wieder über ein Jahr vergangen. Irgendwie
fehlt er mir, deswegen werde ich ihn bestimmt nicht vergessen.