Donnerstag, 18. Januar 2018

Die Niere

Es war kurz vor ein Uhr nachts. Der Abend mit Freunden hatte länger gedauert als geplant. Wie meistens war ich zu Fuß unterwegs. Wenn möglich, lasse ich das Auto stehen. Auch ohne Alkohol. Ich befand mich nicht mehr weit von meinem Haus entfernt, als zwei uniformierte Herren auf mich zukamen. „Guten Morgen, Organspenderpolizei, Ihren Organspenderausweis bitte.“
Beide zeigten mir ihrerseits unaufgefordert sehr offiziell aussehende Dokumente, aber ich war skeptisch. „Wie bitte? Ich habe keinen Organspenderausweis. Und seit wann muss man die vorzeigen?“
„Das ist jetzt leider ganz schlecht für Sie. Seit Mitternacht ist ein Gesetz in Kraft, das die Organspende neu regelt. Wer keinen Organspenderausweis vorweisen kann, darf ab sofort jederzeit und ohne Einwilligung auch für eine Lebendspende herangezogen werden.“
Mir wurde leicht schwindlig. „Davon hätte ich gehört.“
„Man kann nicht alles mitkriegen. Es werden auch keine Organe entnommen, die man zum Überleben braucht. Vermute ich jedenfalls. Wie auch immer, man benötigt dringend Nieren. Keine Angst, Sie müssen sich nur von einer trennen. Bitte kommen Sie mit.“
Mir wurde richtig schwindlig und auch übel. „Das können Sie nicht … wer ist eigentlich ‚man‘ … und überhaupt, woher wissen Sie, dass ausgerechnet meine Nieren für den Empfänger geeignet sind?“ Ich wäre wohl besser weggerannt, statt zu diskutieren, aber mir waren Kraft und Geistesgegenwart restlos abhandengekommen.
Die Herren packten mich resolut an beiden Armen. Widerstand schien sinnlos. „Es gibt so viele mögliche Empfänger, die verzweifelt auf eine Niere warten, da wird Ihre schon irgendwo passen. Und jetzt kommen Sie bitte. Wenn Sie möchten, können Sie im Krankenhaus nach der Operation ein Telefongespräch führen.“

Das Klingeln des Telefons weckte mich. Nein, es war die Haustürklingel. Ich war schweißgebadet. Warum wacht man bei schönen Träumen ausnahmslos sofort auf, aber bei Albträumen gibt es nie ein schnelles Entrinnen? Egal, ich hatte es überstanden. In diesem Moment, als der Traum noch so frisch in meinem Hirn rumgeisterte, spürte ich irrationalerweise Dankbarkeit für meinen Organspenderausweis und die Tatsache, dass ich sogar offiziell in der Organspenderdatei registriert war. Eine Entscheidung, über die ich seinerzeit lange nachgedacht hatte. 
Als ich meine Haustür öffnete, sah ich zwei uniformierte Herren mit Dienstausweisen in der Hand. „Guten Morgen, wir kommen von der Organspenderpolizei. Sie sind ja als potentieller Organspender registriert …“
Jetzt war ich sogar noch dankbarer. Sogar glücklich. Vor lauter Euphorie unterbrach ich den Organspenderpolizisten, der das Wort an mich gerichtet hatte. „Ja, das bin ich, und zwar aus voller Überzeugung.“
„Sehr gut. Wie Sie vielleicht wissen, ist seit Mitternacht ein Gesetz in Kraft, das die Organspende neu regelt. Wer als Organspender registriert ist, darf ab sofort jederzeit und ohne Einwilligung auch für eine Lebendspende herangezogen werden. Bitte kommen Sie mit.“