Mittwoch, 5. Juli 2017

Aufstieg und Fall 2

Wir befinden uns in einer Marmeladenfabrik. Der Duft diverser Obstsorten strömt durch alle Gebäude und erreicht auch den schlicht gehaltenen Verwaltungssitz. Dort sitzen im großen Konferenzraum alle, die in der Firma was zu sagen haben, und besprechen die aktuelle Lage sowie neue Ideen für die Zukunft. Die Anregung, das Sortiment zu erweitern, wird von sämtlichen Anwesenden gelobt, nachdem der Chef wohlwollend genickt hat. Man entscheidet sich für Stachelbeermarmelade, weil niemand die zehntausendste Erdbeer- oder Aprikosenmarmelade braucht. Am Ende der Sitzung beglückwünschen sich alle gegenseitig und stoßen mit spontan herbeigeschafftem Sekt auf die neue Marmeladensorte an.

Einige Monate später ist die Stachelbeermarmelade auf dem Markt. Um den Käufern eine echte Alternative zum süßen Einheitsbrei zu bieten, hat man auf zu viel Zucker verzichtet und so die natürliche Säure der Stachelbeere bewahrt. Die Marmelade entwickelt sich wie erwartet nicht zum gigantischen Umsatzbringer, wird aber doch recht gut vom Markt angenommen. Sie etabliert sich auf einem nicht überragenden, aber stabilen Niveau. Offensichtlich gibt es genügend Marmeladenfreunde, die den Geschmack jenseits des Mainstreams zu schätzen wissen.

Nach einem Jahr wirft ein Mitarbeiter aus dem Controlling einen strengen Blick auf die Umsatzzahlen. Die meisten Sorten gehen gut, Erdbeere ganz besonders, lediglich die Stachelbeermarmelade wirft nur einen vergleichsweise geringen Gewinn ab. Bei der nächsten Konferenz bringt der Controller das Thema zur Sprache. Ein Kollege, der sich überwiegend von weißer Schokolade ernährt und Stachelbeeren wegen eines Kindheitstraumas sowieso noch nie leiden konnte, empfiehlt, den Zuckergehalt zu verdoppeln, damit die Marmelade mehr Käufer findet. Der Vorschlag wird angenommen.

Relativ schnell steht die Doppelzucker-Version der Stachelbeermarmelade in den Regalen der Supermärkte. Ein Störer, der aber aus ästhetischen Gründen nicht weiter auffällt, macht theoretisch darauf aufmerksam, dass die Marmelade eine neue Rezeptur hat. In der Praxis bemerken die meisten Kunden erst beim Essen, dass sich etwas geändert hat. Ein Blick auf den Gesamtzuckergehalt beseitigt etwaige Zweifel an den eigenen Geschmacksnerven.

Die Freunde des authentischen Stachelbeergeschmacks sind enttäuscht und wenden sich sehr schnell von ihrer ehemaligen Lieblingssorte ab. Der Umsatz geht stark zurück. Eine hektisch erarbeitete Werbekampagne unter dem Motto „Unsere beliebte Stachelbeermarmelade jetzt doppelt so lecker, da mit doppelt so viel Zucker“ verpufft wirkungslos. Wer Zuckermarmelade wünscht, bevorzugt die bewährten Süßsorten.

Die Freunde der originalen Rezeptur gründen einen Verein und starten eine Online-Petition für eine Rückkehr zur ersten Version, werden aber von der Marmeladenfirma noch nicht mal ignoriert. Stattdessen wird als letzter Versuch der Zuckergehalt nochmals verdoppelt. Jetzt bricht der Verkauf endgültig ein, die Ware verstaubt in den Regalen. Supermärkte ordern nicht mehr nach und retournieren vorhandene Bestände. Die Marmeladensorte, die vorübergehend den Firmengewinn gesteigert hatte, wird zum Verlustbringer. Der Hersteller gibt auf und nimmt die Stachelbeermarmelade vom Markt. Der Mitarbeiter, der damals im Konferenzraum als erster das Wort „Stachelbeeren“ gesagt hatte, wird mit Hilfe von Sitzungsprotokollen identifiziert und unter einem Vorwand entlassen.

Nur wenige Monate danach zahlen vermögende Liebhaber für unangebrochene Gläser mit der originalen Rezeptur auf Auktionen absurd hohe Preise. Der entlassene Mitarbeiter stirbt an einer Überdosis Erdbeermarmelade.