So. Seit heute ist es offiziell, Großbritannien hat den EU-Austritt beantragt. Vor weniger als einem Jahr war es noch undenkbar, jetzt gibt es kein Zurück mehr.
Was das alles für Großbritannien und die EU bedeutet, muss ich hier nicht wiederkäuen, das wurde und wird überall ausreichend und überwiegend kompetent und teilweise noch theoretisch erörtert. Für mich ist es vielmehr eine sehr persönliche Kränkung, denn wenn es um Anglophilie geht, macht mir niemand was vor, jawohl. Mit 13 Jahren war ich das erste Mal auf der Insel, vor über vier Jahrzehnten also, und schon vor diesem Familienurlaub habe ich mich wie verrückt auf das Land gefreut, ohne irgendwas zu kennen oder irgendwas zu wissen. Mittlerweile gibt es kaum eine Ecke des UK, die ich nicht heimgesucht habe. Ich war in England, Schottland, Wales und Nordirland, kenne alles von Land's End über die Orkney Islands bis hin zum Giant's Causeway.
Gibt es einen Grund für diese Anglophilie, die auch nach einigen Jahren der Abwesenheit noch sehr intakt ist? Allein mit dem touristischen Aspekt ist die Faszination nicht zu erklären. Andere Länder haben auch schöne Landschaften, wuchtige Burgen, zauberhafte Schlösser und grandiose Kathedralen. Ist es das Wetter? Ist es die Küche? Ist es das Ale? Auch alles nicht, obwohl die sämtlich sehr viel besser sind als ihr Ruf. Sind es die Pubs? Da kommen wir der Sache schon etwas näher, um ehrlich zu sein, mehr aber auch nicht. Ist es am Ende die Vorliebe der Briten für Teppichboden im Badezimmer? Definitiv nicht.
Könnte es die Kultur sein? Schon eher; meine liebsten TV-Serien kommen überwiegend aus GB (das wäre einen eigenen Beitrag wert und erwähnte ich schon mal meine Dankbarkeit für die Erfindung der DVD?), das britische Kino hat viele für mich unverzichtbare Klassiker produziert, ich habe britische Kriminalromane schon als Kind verschlungen und die britische Pop- und Rockmusik ist meiner Meinung nach derjenigen aus, sagen wir: Frankreich und Italien, unbedingt vorzuziehen. Hm. Etwas ableiten würde ich daraus trotzdem nicht.
Sind es dann also die Menschen, die viel liebenswürdiger sind als der Durchschnittsdeutsche (yours truly inbegriffen), und das nicht nur im legendär herzlichen Schottland, sondern auch im angeblich so steifen England? Das kann es nicht sein, solche Menschen gibt es auch in anderen Ländern. Ist es das typisch britische Understatement? Die typisch britische Höflichkeit? Das typisch britische Fairplay? Die typisch britische Fähigkeit zum akkuraten Schlangestehen (siehe auch: Höflichkeit)? Die typisch britische Vorliebe für Exzentrizität? Der typisch britische Humor (siehe auch: TV und Kino)? Fragen über Fragen, die aber erneut nur sehr bedingt weiterführen. Zumal man bei all diesen „typischen“ Dingen höllisch aufpassen muss, nicht in die Klischee-Falle zu tappen.
Möglicherweise hilft ein Blick ganz nach hinten. Unvergessen bis heute die Besichtigung von Coventry Cathedral während des erwähnten ersten Urlaubs. St Michael's ist die einzige britische Kathedrale, die im zweiten Weltkrieg den Deutschen zum Opfer gefallen ist. Hier steht die Ruine der alten Kathedrale genau neben der nach dem Krieg neu errichteten, beide bilden sozusagen eine Einheit. Auf einem Schild wird der Besucher informiert, dass die alte Kathedrale im Weltkrieg zerstört wurde – wer die Bomben geschmissen hat, wird höflich verschwiegen – und dass die neue Kathedrale mit Hilfe der Jugend aus einer Vielzahl von Ländern gebaut wurde. Hier war Deutschland dann erwähnt. Ob dieses Schild noch existiert, weiß ich natürlich nicht, es ist lange her. In all den Jahrzehnten habe ich immer wieder daran gedacht und andere mit meinen Erinnerungen belästigt. Dennoch. Selbst, wenn man als Kind schneller beeindruckt ist und vielleicht sogar geprägt wird, sehe ich auch das nicht als Grund für diese lebenslange Leidenschaft.
Vielleicht gibt es ja wie bei jeder Liebe keine rationale Erklärung. Vielleicht gibt es eine solche Erklärung, aber ich komme nicht drauf. Vielleicht ist es Unfug, eine solche Erklärung finden zu wollen. Vielleicht ist es ganz schlicht eine Mischung von allem; die schiere Menge der möglichen Gründe wäre dafür ein starkes Indiz. Vielleicht ist mein gekränktes Gejammer sowieso überflüssig, denn Großbritannien verschwindet ja nicht von der Landkarte, sondern nur aus der EU. Trotzdem. Ich bin jetzt erst mal geknickt. Und das nicht nur vielleicht. Sondern ganz gewiss.