Samstag, 10. Oktober 2015

Meine Zeit mit dem ÖPNV. Die Geschichte einer besonders gründlichen Desillusionierung.

Ich mag Zugfahren. Das vorweg. Man steigt ein, setzt sich hin, lässt sich sehr sicher von A nach B befördern und kann derweil aus dem Fenster sehen. Oder was lesen. Oder ein Kreuzworträtsel lösen. Oder dösen. Oder sein Smartphone befingern. Oder die Gespräche andere Fahrgäste belauschen. Oder sich mit etwas selbst Pech ein Gespräch aufdrängen lassen. Was auch immer. Nur auf den Straßenverkehr muss man nicht achten, und wer jemals erlebt hat, wie viele Vollidioten auf den Straßen unterwegs sind, die ununterbrochen für Lebensgefahr und lange Staus sorgen, kann das nur gut finden. Doch, eigentlich mag ich Zugfahren sogar sehr. Im Prinzip.

Denn der Reiz des Zugfahrens verfliegt zügig, wenn man über einen längeren Zeitraum gezwungen ist, den ÖPNV – in meinen Fall RMV/HLB – zu nutzen. Bei mir besteht der Zwang in der monatelangen Spanne vom Ableben des alten bis zur Lieferung des neuen Autos. Schon seit Monaten nutze ich also den Zug von meinem Taunusdorf mit Umsteigen im Hauptbahnhof Ffm. zur Arbeitsstelle südlich von Frankfurt.

Kaum ein Tag vergeht ohne Unpünktlichkeit. Würdeloses Rennen vom einen Ende des Hauptbahnhofs Frankfurt/Main zum anderen ist die Regel, vor allem abends. Der ständige Blick zur Uhr, ob der Anschlusszug trotz prinzipiell mehr als ausreichender Zeit zum Umsteigen noch zu schaffen ist, wurde längst zur Routine. Meistens klappt es total außer Atem doch noch, aber nicht immer. Das bedeutet dann knapp 30 Minuten Zeit totschlagen im Bahnhof. Es kam auch schon vor, dass ein Zug einfach gestrichen wurde. Vergeht mal eine Fahrt ohne Probleme, weiß man schon ganz genau, dass man dafür bei der nächsten Fahrt mit umso dramatischerem Ungemach bestraft wird. Wer nur halbwegs Wert auf Zuverlässigkeit legt, hat beim ÖPNV ganz schlechte Karten.

Oft wird man von der Bahn sogar über Verspätungen oder andere Unregelmäßigkeiten informiert. Zumindest ist der Wille zu erkennen. In der Regel kann man aber nur ein „krkkchkkkkrrchkkr“ oder so ähnlich verstehen, weil die Qualität der meisten Bahnhofslautsprecher unter aller Sau ist. Und versteht man dann mal eine Durchsage, ist das auch eher schädlich. Wenn einen nämlich der Lautsprecher darauf hinweist, dass der Zug ausfällt, das von der Leuchtanzeige sogar noch bestätigt wird, man dann den Bahnsteig verlässt, um sich über Alternativen zu informieren, dann der Zug aber doch kommt und einem, während man zum Gleis zurückrennt, vor der Nase wegfährt. Das ist genau so passiert. Kannste dir nicht ausdenken. 

Die Züge von meinem Taunusdorf nach Frankfurt und zurück sind grundsätzlich überfüllt, fast immer fehlt mindestens ein Wagen. Hauen und Stechen unter den Fahrgästen, um vielleicht doch noch einen der kostbaren Sitzplätze zu ergattern, ist da vorprogrammiert. Ja, das ist dem Sparen geschuldet, aber so vergrault man die Kundschaft und der Betrieb wird noch defizitärer. Ob das klug ist?

Nicht zu vergessen die Fahrkartenautomaten. Jeder weiß, dass die nur für Eingeweihte problemlos zu bedienen sind, aber das lernt man nach wenigen Monaten, und dann kann man sogar anderen bei der Benutzung helfen. Leider sind die Automaten aber auch nicht sehr zuverlässig. Mal kommen 5 Cent zu wenig Wechselgeld heraus, mal funktioniert der Touchscreen nur mit Gewalt, mal kann man den Preis von 8,85 Euro nicht mit abgezählten 8,90 Euro bezahlen, und wenn man versehentlich die falsche Taste bedient und auf „Abbrechen“ drückt, dauert dieser Vorgang gefühlte Ewigkeiten. Natürlich wurde der zweite Automat am Bahnhof im Taunusdorf schon vor Jahren abgebaut, so dass man keine Alternativen hat und die Schlangen bei Problemen bedrohlich werden.

Überhaupt dieser Bahnhof. Es gibt auf dem Bahnsteig einen winzigen Verhau, eine Art Dach mit seitlichen Wänden, in den man sich bei Regen oder Schnee oder Sturm retten könnte. Natürlich ist der in solchen Fällen immer zu voll und auch voller Raucher. Und Schutz gegen die Kälte bietet dieser Verhau sowieso nicht. Nein, das ist keine Hilfe, es ist vielmehr eine weitere Verhöhnung der Fahrgäste. Ein reiner Schönwetterbahnhof also? Nein, selbstverständlich nicht. Denn falls man im Sommer Schatten suchen sollte, findet man den hier auch nicht.

Ja, ja, einige der Probleme sind durchaus höherer Gewalt geschuldet. Jeden Tag muss die Bahn Tausende von Verbindungen koordinieren, eins hängt am anderen, und wenn sich jemand vor den Zug wirft oder die Oberleitung bei einem Unfall zerstört wird oder sonstwas passiert, hat das Auswirkungen auf das ganze System. Das ist zu entschuldigen. Meistens ist es aber offensichtlich reine Überforderung von Mensch und Material. In anderen Ländern klappt das wohl deutlich besser. 

Das alles gilt nicht nur für den ÖPNV. Zwei längere Bahnfahrten hatte ich in diesem Jahr, zwei Mal gab es Probleme. Ja, auch hier teilweise höhere Gewalt, aber eine klare Bestätigung der Tendenz. Und es ist auch nicht so, dass ich einfach nur Pech hatte. Überall kann man hören, dass die Deutsche Bahn im Nah- und Fernverkehrt durch und durch dysfunktional ist.

Natürlich sind nicht alle hässlichen Aspekte des ÖPNV-Pendelns die Schuld der Bahn. Die anderen Fahrgäste tragen verlässlich ihren Teil zum Verdruss bei. Oft sind die Züge schon morgens so verdreckt, dass man sich fragt, ob das „P“ in ÖPNV vielleicht für Pöbel steht. Dann die Geruchsbelästigung durch ungewaschene Menschen und solche, die ihre aufdringlich riechenden Mahlzeiten im Zug einnehmen. Die Arschlöcher, die in den Zug einsteigen, bevor man ausgestiegen ist. Die Flegel, die die Abfahrt einer S-Bahn verhindern, indem sie sich auf den letzten Drücker durch die sich gerade schließende Tür quetschen. Die Deppen, die in großen Trauben den Verbindungsweg von Bahnsteig zu Bahnsteig versperren und einen wertvolle Zeit kosten, wenn man mal wieder panisch versucht, den Anschlusszug zu erreichen. Die Trottel, die im Bahnhof stur auf ihr Smartphone starren und darauf bauen, dass man sie nicht über den Haufen läuft. (Sollte man eigentlich viel häufiger machen.) Die Rüpelradfahrer, die noch nicht mal innerhalb des Bahnhofs vom Rad steigen wollen. Und, und, und. Haben Sie sich irgendwo wiedererkannt? Dann sollten Sie sich in die Ecke stellen und kräftig schämen.

Kurz gesagt, es ist die Hölle. Ihr, die Ihr euch dem ÖPNV anvertraut, lasst alle Hoffnung fahren. Als „Kunde“ des ÖPNV wird man von einer teuflischen Mischung aus Demütigungen, Verhöhnungen und Verarschungen entnervt. Das Pendeln per Zug macht nicht nur keinen Spaß, was Bahnfahren eigentlich sollte, es sorgt im Gegenteil für großen Frust und Verzweiflung und sehr schlechte Laune und, ich schäme mich nicht, das zuzugeben, häufig auch für hemmungslosen Hass, Der alltägliche Wahnsinn treibt einen konsequent in den Irrsinn. Unfehlbar wird der Wunsch übermächtig, alles anzuzünden oder in die Luft zu sprengen. Als Opfer des ÖPNV ist man über kurz oder lang zermürbt und jeglicher Energie beraubt; irgendwann verliert hier jeder seinen Überlebenswillen. Je nach Tag und Stimmung ist man also entweder im Zustand ultimativer Zerstörungslaune oder hoffnungsloser Resignation. Klang das jetzt konfus in der Argumentation? Daran können Sie sehen, was der ÖPNV aus mir gemacht hat.

Mittlerweile zähle ich die Tage, bis ich nicht mehr Bahn fahren muss. Es wird wie das Aufwachen aus einem ganz besonders schrecklichen Albtraum sein. Für mich ist es völlig undenkbar, auf das Auto zu verzichten und ganz auf den ÖPNV umzusteigen. (Wie überstehen das eigentlich die Menschen, die das freiwillig oder gezwungenermaßen nicht nur vorübergehend tun, ohne täglichen Amoklauf? Sind das alles Superhelden? Heilige? Flagellanten? In der Wolle gefärbte Stoiker? Oder Zombies?) Da sind sämtliche Kampagnen, die mich zum Umsteigen bewegen wollen, rausgeschmissenes Geld. Wer mit seinen Kunden so umspringt wie die Bahn, kann mich mal. 

Sonntag, 4. Oktober 2015

Das Comeback des Jahres

Hinterher stellte sich dann bei einem Kramen in den aus nostalgischen Gründen aufgehobenen Karten raus, dass es 13 Jahre her war. 13 Jahre seit dem letzten Besuch eines Rockkonzerts, seit dem Auftritt des unvergessenen Willy DeVille, und 15 Jahre seit dem vorletzten Besuch, seit dem Auftritt der Waterboys in der alten Batschkapp. In der Zwischenzeit nur Oper und dann auch eine Zeitlang überhaupt nix. Und jetzt also wieder die Waterboys. In der neuen Batschkapp. Mein persönliches Comeback des Jahres.

Konnte das gutgehen? Irgendwann ist der Mensch vielleicht zu alt für diese Rockkonzerte und sollte die Abende besser entspannt bei einem Glas Rotwein oder vielleicht nur Leitungswasser mit einer Nahrungsergänzungsbrausetablette auf dem Sofa verbringen, statt stundenlang in stickigen Hallen inmitten von Menschenmassen zu stehen und sich mit Bier überschütten zu lassen. Wenn einen aber Freunde, mit denen man vor mehreren Jahrzehnten gemeinsam die Schule besucht hatte, quasi zwingen, kann man sich eher nicht die Blöße geben und mit dem fortgeschrittenen Alter kokettieren. Und es war auch noch Monate hin, als die Frage aufkam, also im Prinzip weit jenseits jeglicher Vorstellungskraft. Daher dann also ein verwegenes „okay, komme ich halt ausnahmsweise mal wieder mit“.

Natürlich ging dann alles ganz schnell, die Monate verflogen und ich durfte nach der Arbeit nicht die Füße hochlegen, sondern musste mit der U-Bahn in den Osten von Frankfurt fahren. Es wurde in gewisser Weise zu einer Zeitreise. Das Publikum überwiegend in meinem, also im fortgeschrittenen Alter. Und alle benahmen sich so, wie ich es von früher in Erinnerung hatte; also nicht nur wie vor 13, sondern wie vor 20 oder 30 Jahren. Die gleichen betont lässigen Posen, das gleiche Gehabe, die gleiche Mimik, das gleiche Rumstehen usw. Wer weiß, vielleicht hat jede Generation nicht nur ihre eigene Musik, sondern auch ihr eigenes, unverwechselbares Rockkonzertbenehmen. Bei vielen Besuchern waren auch Kleidung und Frisuren und Styling genau wie früher; wohl der verzweifelte, würdelose und, seien wir ehrlich, vergebliche Versuch, die eigene Jugend zu bewahren oder zu exhumieren.

All das war vermutlich zu erwarten, es war aber auch nicht weiter schlimm. Vor allem war es gar nicht sooooo daneben. Das knapp zweistündige Konzert war durchaus wie eine Verjüngungskur, bei der ich kurzfristig vergessen habe, dass ich mittlerweile, es ist nicht zu leugnen, ein fauler alter Sack bin. Die sechs Herren rockten sehr lebendig, es war ein ziemlich geiles Konzert, bei dem man nicht stillstehen konnte. (Okay, die Zugabe Purple Rain hätte es nicht gebraucht, schon gar nicht als letzte Zugabe, die einen dann in die Nacht entließ, diesen Song mochte ich noch nie; aber ich will nicht kleinlich sein, und letztlich ist das sowieso Geschmacksache.) Die Waterboys spielten eine schöne Mischung aus dem sehr vielseitigen Werk der Band, darunter, wie es sich gehört, diverse Titel der empfehlenswerten neuen CD. Sollten Sie eine ausführliche und vor allem kompetente Konzertkritik lesen wollen, empfehle ich einen Besuch des Internets; andere können das besser als ich.

Ach ja, alles war dann doch nicht wie früher. Betrat man früher die Halle mit einer schönen Konzertkarte, die man dann als Souvenir möglichst intakt in die Sammlung eingliedern konnte (siehe oben), ist es heute ein schnöder, aus logistischen Zwängen mehrfach gefalteter Ausdruck aus dem Internet. Wäre man früher für den Konsum von alkoholfreiem Bier ausgelacht worden, ist das mittlerweile relativ normal und lässt einen nicht wie einen Schrat wirken. Hielt man früher, wenn sich der Song dafür eignete, ein Feuerzeug hoch, ist es heutzutage ein Handy, mit dem man Erinnerungsfotos knipsen oder einen Song aufnehmen kann, und das Ergebnis lädt man dann irgendwo hoch und belästigt vielleicht sogar dereinst die Enkel und Urenkel damit.


Wer weiß, vielleicht war es ja doch nicht das allerletzte Rockkonzert, das ich besucht habe. Vorher war ich mir da ziemlich sicher, aber man soll bekanntlich niemals nie sagen.

Die vielleicht längste Anfahrt hatte übrigens die Dame aus Ulm, die in der gleichen U-Bahn wie ich saß und dann bei etwas Waterboys-Smalltalk gemeinsam mit mir zur Halle ging. Sollten Sie das hier lesen: fühlen Sie sich gegrüßt.

Foto ©Thomas Kalich